Italien: Kalabrien - Aufbruch an
der Stiefelspitze
Kalabrien: Das südliche Italien will mit Macht
nach vorn und sich neu entdecken lassen
Von Andreas Lukesch
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Blick aufs Meer von einer der zahlreichen
Steilküsten Kalabriens. |
Vergessene Welt voller Überraschungen
Oscar d´Ippolito weiß, was moderne Reisende
wollen: individuelle Touren, einen Hauch von
Abenteuer, wilde Romantik und gutes Essen das
suchen die Touristen von heute. Und sie finden es
an vielen Plätzen auf der Welt, aber nirgendwo so
wie in Kalabrien. Davon ist Oscar d´Ippolito
überzeugt, deshalb wirbt er für seine Agentur
Meridianosedici selbstbewusst mit dem Slogan
"Verloren geglaubte Welten entdecken". Der
Kalabrese verspricht nicht zu viel. Tatsächlich
gibt es auf dem südlichsten Zipfel des Stiefels
noch viel zu entdecken. Kaum zu glauben in einem
touristisch so erschlossenen Land wie Italien. So
bietet Meridianosedici Touren an, die es anderswo
auch schon gibt, die in Kalabrien aber einzigartig
sind: Rasante Berg- und Talfahrten in der
Minivan-Kolonne von Küste zu Küste. Abenteuerliche
Jeep-Safaris durch zerklüftete Berglandschaften.
Trekkingtouren. Oder Luxus-Picknick unter
Olivenbäumen. Das alles ist garniert mit
modernster Technik wie Satelliten-Navigation und
dem Versprechen, im Einklang mit der Natur zu
reisen. Ständig hängt Oscar, wie ihn alle nennen
dürfen, am Handy, telefoniert mit seinen
"Kontaktleuten" in ganz Kalabrien. Er weiß immer,
wo gerade das beste Wetter herrscht oder eine ganz
besondere Sehenswürdigkeit nur auf
Meridianosedici-Gäste wartet. "Aus reiner Liebe zu
meiner Heimat" betreibt er das Geschäft und aus
Liebe zum Geld, denn die Touren mit
Meridianosedici sind nicht gerade billig. 75 Euro
kostet der Trip im Minivan, traditionelle Ausflüge
im Touristenbus sind da deutlich preiswerter. Aber
Oscar weiß eben, was Reisende wirklich wollen. Als
Touristenregion für Ausländer wird Kalabrien eben
erst entdeckt. Es gibt nur wenige Reiseführer.
Deutsche Zeitungen sind eine Seltenheit, selbst in
den großen Hotels und was in den Herbergen
Kalabriens unter der Vier-Sterne-Kategorie läuft,
wäre im benachbarten Sizilien oft nur einen
dritten Stern wert.
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Typisch Kalabrien: steile Felsen und weiße
Strände. |
Kalabrien - eine Region will nach vorn
Doch Kalabrien will mit Macht nach vorn, setzt auf
Gäste, die aufgrund unsicherer Lage Tunesien oder
die Türkei meiden, sich aber auf dem selben
Breitengrad bewegen wollen. Die Aufbruchstimmung
kommt spät in einer Region, die lange Zeit als
Armenhaus des Landes von Rom vernachlässigt wurde.
Aber genau darin liegt auch die Chance Kalabriens.
Über 800 Kilometer Küste vom Tyrrhenischen bis zum
Ionischen Meer bietet die Stiefelspitze ihren
Besuchern. Dazwischen eine einzigartige Landschaft
mit wild zerklüfteten Küstenstreifen, einsamen
Badebuchten, dicht bewaldeten, geradezu alpinen
Gebirgszügen und romantischen Bergdörfern.
Letztere sind zum Teil längst verlassen, die
Einwohner nach und nach in den reichen Norden
Italiens abgewandert. Jetzt werden sie als
Geisterdörfer für Touristen neu entdeckt und von
Oscar d´Ippolito als besondere Attraktion
angeboten. Sicher steuert er seinen Minivan auf
kurvenreichen Straßen in das südlichste Gebirge
der italienischen Halbinsel, den fast 2000 Meter
hohen Aspromonte. Es ist das am meisten durch
Erdbeben gefährdete Gebiet Italiens und nicht nur
das. Die Kalabresen hatten es in ihrer
wechselvollen Geschichte immer wieder mit
angriffslustigen Seevölkern zu tun, mit Besatzern
und mit der Malaria. Alle haben sie ihre Spuren
auf dem strategisch so bedeutsamen Landzipfel
hinterlassen. Römer, Goten, Langobarden,
Byzantiner, Normannen, Staufer, Aragonier und
Bourbonen prägten Architektur und Kunst. Die
Malaria hat das Land den Römern zu verdanken, die
gnadenlos die Wälder auf der ionischen Seite
abholzten. Die Wassermassen aus dem Gebirge
stürzten über Jahrhunderte ungehindert in die
Täler, verursachten Überschwemmungen und ließen
riesige Sümpfe entstehen, die allerbeste
Voraussetzungen für die Malariafliege boten. Erst
vor wenigen Jahrzehnten konnten die Sümpfe
endgültig trocken und die Malaria besiegt werden.
Gigantische Eukalyptuswälder, die dem Boden das
Wasser entziehen sollten, zeugen noch heute vom
Kampf gegen das heimtückische Insekt.
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Kalabrien bietet mediterrane Stimmung pur. |
Pizzo: Die Wiege des Tartufo-Eises
Gaetano Di Jorgi kann sich an die Malaria-Zeiten
noch erinnern. Er ist 72 Jahre alt und steht nach
wie vor in der Küche der Gelateria Ercole an der
Piazza della Republica in Pizzo. Die pittoreske
Stadt auf der tyrrhenischen Seite scheint auf
ihrem Küstenfelsen fast ins Meer zu stürzen. Doch
Berühmtheit erreichte Pizzo durch eine
kulinarische Erfindung. Aus Pizzo, und nur von
dort, kommt das berühmte Tartufo-Eis: jene
schwarze oder weiße, an die begehrten Pilze
erinnernde Kalorienbombe, die heute auf jede Karte
eines guten Italieners weltweit gehört. In Pizzo
gibt es viele Spezialisten, die das Rezept für das
beste Tartufo-Eis kennen und wie einen Schatz
hüten. Gaetano Di Jorgi ist der erfahrenste und
älteste unter ihnen. Als Kind brach er die Schule
ab und wechselte ins Eisgeschäft. "Das haben hier
viele gemacht, weil das Eis unsere Zukunft war",
berichtet der fröhliche alte Mann und wischt sich
seine Schokoladenfinger an der weißen Schürze ab,
bevor er seinen Gästen die Hand gibt. Seit 60
Jahren formt er unermüdlich Eiskugeln mit der
Hand, 300 Portionen schafft er an einem guten Tag.
Ein wenig stolz ist er darauf, dass er sein ganz
persönliches Rezept trotz hartnäckiger Nachfragen
nie verraten hat. Nur so viel ist ihm zu
entlocken: Ins Tartufo-Eis gehören Milch, Zucker,
Eier, Schokolade und Haselnusscreme aber keine
Sahne, darin unterscheidet sich das Original von
den unzähligen Kopien. Di Jorgi dürfte sein Rezept
wohl mit ins Grab nehmen. Aber das wird noch lange
dauern, da ist sich der 72-Jährige ganz sicher.
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Italienisches Lebensgefühl - mit Vespa und
Amore. |
Kalabresische Küche - einfach aber erlesen
Was kommt bei Di Jorgi auf den Tisch, wenn er mal
nicht gerade mit Eis zu tun hat? Natürlich
Schwertfisch, der wird vor den Küsten Kalabriens
mit eigenwilligen Booten und Harpunen gejagt und
in unzähligen Zubereitungsformen in den
Restaurants und Hotels angeboten. Überhaupt ist
das Essen, neben der Landschaft, den Stränden und
der Kultur eines der wichtigsten Pfründe, mit
denen Süditalien wuchern kann. Bestes Olivenöl,
eine Pesto mit 21 Kräutern, Pilzgerichte und
natürlich immer wieder Fisch. Vier Gänge sind
obligatorisch, auch in den Hotels. Viele davon
sind in Familienbesitz, entwickelten sich aus
kleinen Campingplätzen zu Ferienanlagen. Dort
steht die Mama noch am Herd und beginnt jetzt die
ersten Worte Deutsch zu lernen. Der neue Trend zum
Natürlichen, Ursprünglichen in Italien heißt zu
deutsch Agrartourismus. Auch die Azienda
Agrituristica Ruralia, nicht weit entfernt von den
beliebten Badebuchten des Capo Vaticano, hat sich
dieser Philosophie verschrieben. Dort gibt es im
offenen Restaurant mit Terrasse und Meerblick fast
ausschließlich Produkte, die im eigenen Hause
hergestellt werden. Die Zutaten sind einfach, aber
erlesen, die Zubereitung ist klassisch
kalabresisch. Der Wein kommt aus der Gegend.
Ruhiger geht es in der Azienda zu, von der
sprichwörtlichen italienischen Hektik ist keine
Spur. Die Uhren scheinen hier einen Tick langsamer
zu gehen, wie fast überall in Kalabrien noch.
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